Zwey Augen hat die Seel: eins schauet in die Zeit
Das andre richtet sich hin in die Ewigkeit.“

(Angelus Silesius)

Wer seiner Seele treu ist und sie nicht suggestiven, manipulativen Mächten ausliefert, auch wenn er durch seine Treue scheinbaren Nachteil erleidet, denn von weltlichem Vorteil scheint oftmals dasjenige zu sein, was der eigenen Seele Schaden bringt, sie sogar in den Abgrund treibt, 

wem in der schlechthinnigen Treue das wortverwandte englische true, Wahrheit, aufgeht,
und wer mit der aufgehenden Wahrheit einen Bund im Sinne des Althochdeutschen triuwa eingeht, 

dem wird in dieser zutiefst freien, frei gewählten Gebundenheit ein Licht entgegenleuchten, das unverlierbar bleibt, ein Seelenlicht, das zur Heimstatt wird und zum Wegweiser: in der Welt und in die Welt, wo es seinesgleichen findet und sich in diesem wiederfindet.

Das Licht: Nicht plötzlich, sondern allmählich, matt wie in einem Ahnen, erscheint es, bis es zuletzt und für immer ein Strahlen ist. Erst zieht es ein, dann richtet es sich ein, schließlich richtet und ordnet es. Erst Vagant, dann König.

Ohne Treue zur Seele, ohne true, ohne triuwa, ohne starken Willen, der diese Treue stets begleitet, bleibt es dunkel im eigenen Reich.

Wir sitzen nicht auf unserer Seele wie der Hahn auf dem Mist

Dies Bündnis, das wir – gegen allen Materialismus – mit der Seele eingehen, bedeutet aber nicht, daß wir auf unserer Seele nur zu sitzen brauchen wie der Hahn auf dem Mist, um hie und da zu krähen, zufrieden und selbstgewiß, selig und seelig. 

Das Gegenteil ist der Fall. Erst mit diesem Bündnis beginnt das Tun wesentlich zu werden, sodaß im Lichte dieses Tuns alles vorhergehende sich als hohle Geschäftigkeit ausnimmt. Wir begeben uns auf ein unsichtbares Kraftfeld.

Denn die Treue zur Seele lebt sich in der Tätigkeit des Unterscheidens aus. Unterscheidend ergreift, durchwirkt und erhellt tatkräftige Treue unser Bewußtsein.

Das Unterscheiden ist gewissermaßen der innere Auftrag der Seele. 

Unterscheidend und prüfend durchwirken wir diese Welt und wissen, daß ein jeder unvertretbar und unvertreibbar in dieser stets aus dem Seelenbündnis erwachsenden Tätigkeit ist und sein soll. 

Kein anderer kann das für mich übernehmen. Jeder ist in dieser Tätigkeit allein und auf sich gestellt. 

Sobald jedoch diese Tätigkeit infolge des Einflusses physischer oder geistig-suggestiver Substanzen erlahmt, sobald eine Art hypnotischer Zustand eintritt, der Unterschiede verschleiert und im Sinne eines diabolos durcheinanderwirft, das Untere erhöht und das Hohe erniedrigt, sobald sich die Wesenstreue durch kritiklose Übernahme geistiger Inhalte einschläfern läßt, wird die Seele von wesensfremden Kräften okkupiert. Dann hat eine seelische Landübernahme stattgefunden.

Es ist wie bei physischen Substanzen. Was nicht zuträglich, also affin ist, schadet. Und der Schaden kann so groß sein, daß er das Ausmaß einer Vergiftung erreicht.

Man kann sagen, daß das Ungeprüfte per se, was immer es auch sei, zum Gifte werden kann. 

Wer in seiner Wesenstreue den Bund mit der eigenen Seele eingeht, die sich erst dann erschließt, wer sich ihr verpflichtet, der scheidet und unterscheidet, er trennt und grenzt, der wird stark wie Herkules im Augiasstall. Da wird ausgemistet, sauber gemacht und bereinigt. 

Wer sich unterwirft, der erblindet

Wer sich kritiklos fremden Autoritäten unterwirft, einer Expertenkaste ausliefert, sein Wahrheitsempfinden von medialem Marktgeschrei betäuben läßt von den Maklern und Gauklern des aktuell Gültigen und dabei in einer Art angstvollen Kleinheitswahns nicht bereit ist, sich selbst als prüfende Instanz anzuerkennen, wer seine Seele verrät, bevor er sie kennengelernt hat und weil er sie nicht kennengelernt hat, um den ziehen sich die Schleier der Täuschung immer fester zusammen. 

Es wird dunkel um ihn herum und nichts bleibt ihm, was ihm inneren Halt und Orientierung gibt. 

Wenn die Korrumpierung der eigenen Seele umwillen eines vermeintlichen kollektiven Wohlseins zur gesellschaftliche Pflicht und die Entseelung zum global-politischen Programm wird, dann stehen wir vor der geschichtlichen Aufgabe, dem transhumanistischen Illusionsspektakel die „Tapferkeit des Erkennens“ (Steiner) entgegenzusetzen. 

Wir sind dazu aufgerufen, unsere Individualität als spirituell-geistige Identität fundamental zu ergreifen und diese in freier Kreativität in die Welt zu tragen. 

Damit dies möglich ist, müssen wir inmitten medialer Hysterien und raffiniert inszenierter Weltanschauungskämpfe, ausgetragen in der gut besuchten Arena der Bedeutungslosigkeit, einen Ort der Ruhe finden, in dem uns die Kräfte der Unterscheidung zufließen, einen erleuchteten Seelenort, von dem aus wir der Welt tätig und nicht leidend, selbstbestimmt und nicht fremdbestimmt begegnen können.

Sein seelisches Wesen in dieser Welt positionieren

Pflegen wir die Seelenruhe, so geht es nicht darum, daß wir in uns ruhig sind, daß wir uns ruhig fühlen, sondern daß wir unser seelisches Wesen in dieser Welt positionieren. So kann es auch sein, daß wir zur Quelle in der Wüste werden. Wir werden ein unumgehbares, stark schwingendes Kraftfeld inmitten kraftloser Spektakel. Wir lassen ziehen, was uns zieht, um anzukommen dort, wo wir eigentlich sind: im Anruf unseres Wesens. Und genau dort und sonst nirgends warten unsere wesentlichen Aufgaben, die uns in freier und schöpferischer Weise tätig sein lassen. 

Dann wahrheitet es! 

Von Wahrheit zu reden, ist zu wenig. Sie will als wesensmäßiger Auftrag gelebt werden und muß sich im Alltag bewähren. Sie verlangt die Anspannung unserer Wesenskräfte und braucht Geduld, Hingabe, Ausdauer, Liebe und manchmal auch Verzicht. 

Keine Wohlfühlesoterik, die uns in Zuckerwattehimmel verschaukelt. 

Keine inszenierten Gefühlswelten, die das geblendete Individuum in die Zwecke des Kollektivs einspannt. 

Hier geht es um Entwicklung, die eine Ent-Wickelung und Aus-Wickelung ist. Es geht um langsames Heranwachsen und langsames Hineinwachsen in das, was wir sein können. Es geht um das Schickliche und Geschickliche, wenn der Mensch sich fragt: 

Woher komme ich?
Wohin gehe ich?
Wer bin ich – im Grunde? 

Die Zeit ist zu ernst, als daß sie zum Event verkommen darf

Diejenigen, die rasche Erfolge, erhöhtes Selbstgefühl und praktische Selbstoptimierung suchen, werden uns enttäuscht den Rücken kehren müssen. Und das ist gut so. Denn die Zeit ist zu ernst, als daß sie zum Event verkommen darf. Natürlich ist dieser Ernst kein überanstrengter, philiströser, im Gegenteil: Er atmet das Wissen, daß wir in schicksalhafte Ereignisse hineingestellt sind, die Teil unserer Entwicklung sind. Dieses Wissen schenkt uns liebevolle Gelassenheit und heitere Zuversicht. Sie schenkt uns Freude und manchmal sogar Glückseligkeit.

Meditation und Kontemplation bereiten uns den Boden. 

Meditation heißt der Seele Ruhe geben, damit sie zu neuer Klarheit kommt. Warum Klarheit? Nicht, weil sich Klarheit gut anfühlt, sondern weil in ihr dasjenige möglich wird, was wir Intuition oder Inspiration nennen, weil in ihr dasjenige möglich wird, was wir als Unterscheidungskraft kennengelernt haben. 

Wir lassen uns in dieser Klarheit inspirieren und durch Intuitionen befruchten. Wir öffnen uns für geistige Impulse, die wir in diese Welt hineintragen und auch hineinzutragen haben. Statt uns als Opfer zu fühlen, werden wir zu Mitgestaltern.

In der Kontemplation indes setzen wir uns mit Texten und Gedanken auseinander. Wir schulen an ihnen unser Denken. Denken im Sinne eines hohen Andenkens und einer denkenden Andacht, die uns hinanführt in essentielle geistige Gebiete. Wir lernen das Halten und Aus-Halten von Gedanken. Es geht um Gedanken, die nicht kopieren, sondern kreieren. Es geht um schöpferische Gedanken. 

Im schöpferisch denkenden Durchdringen von Wirklichkeit emanzipieren wir uns von blind übernommenen Vorstellungen. Wir stärken damit unsere freie Individualität, die sich nicht an eine Herdenmoral bindet, sondern an die kosmische Urordnung.

Käuen statt Konsumieren

Wie geht das? Wie sieht dieses Textstudium aus? Kein Konsum von Text, sondern eher das Käuen und Wiederkäuen eines Textes: ein „Wiederkäuen im Herzen“ (Luther) im Sinne mittelalterlicher „ruminatio“. Wer nicht käut, verdaut nicht, und der bekommt auch keinen Geschmack von der Wahrheit.

Hinunterschlucken führt zu geistigen Verdauungsstörungen.

Die Seele atmet nicht frei, wenn sie, nach Wohlbefinden Ausschau haltend, ständig eigenen Bedürfnissen und Bedürftigkeiten Folge leistet, sondern von Grund her, von dort, wo das geistige Licht der innersten Essenz in sie hereinleuchtet, sich reinigt und verwandelt. 

Dafür bedarf es meditativer Ruhe und kontemplativer Betrachtung, damit sich daraus die Kraft der Unterscheidung herausentwickelt.

Die geistige Übung ist ein Durchsichtigwerden, ein Sich-selbst-Transparentwerden für die Essenz. Denn die Seele erlöst nicht durch sich selbst und schon gar nicht im Physischen, sondern allein durch den Geist. In ihm ist sie ihrer eigentlichen Bestimmung überanwortet, und in diesem Überantwortetsein findet sie ihre Antwort: auf das Leben, in dieser Welt, in dieser Zeit.