Mit jedem Workshop für biografisches Schreiben vertieft sich der Respekt vor jeder Lebensgeschichte, die einzigartig ist. Jeder Mensch hat seine eigenen Wege zu gehen, die kaum zu begreifen sind. Das kaum Begreifbare rührt uns — inmitten all der vielen Erklärungen — immer wieder an. Das kaum Begreifbare der Lebenswege macht Wesentliches sichtbar. Menschen gehen, und gehend hinterlassen sie kaum Begreifbares als Spur in dieser Welt.

Ja, so wie es aussieht, entsteht das Wesentliche. Es läßt sich nicht postulieren, ideologisieren, kategorisieren. Es entsteht. Nur das Wesentliche entsteht. Was nicht entsteht, ist unwesentlich. Wesentliches kann nicht bewerkstelligt, inszeniert und auf dem Reißbrett entworfen werden.

Wesentliche Wege entstehen.

Doch wohin die Wege führen und was ihr innerster Sinn ist, wissen wir nicht. Denn jeder Weg hat sein Geheimnis, ist ein Geheimnis — auch für den Gehenden. Wenn wir eine neue Tätigkeit beginnen, wissen wir nicht, was mit dieser Tätigkeit angefangen hat. Was angefangen hat, wissen wir vielleicht, wenn wir zu einem Ende kommen. Wege entstehen, indem wir sie gehen. Manchmal wird uns ein wenig unheimlich zumute, weil Unwegsames sich unserem Schritt entgegenstellt, oder weil wir uns plötzlich in einem Labyrinth wiederfinden.

Gerade noch waren wir so sicher unterwegs, hatten einen ansehnlichen Vorrat von Wissen und Erfahrung im Gepäck. Doch plötzlich reicht all dies nicht mehr aus. Das ist der Punkt, wo wir aufgerufen sind, über uns selbst hinauszuwachsen.

Was für ein Wort! Über uns selbst hinauswachsen!

Wohin um Himmels Willen sollen wir denn wachsen, wenn wir, über uns hinauswachsend, uns selbst im Wachsen zurücklassen? Man kann seiner Kindheit oder sonstigen Lebensphasen entwachsen, ja, aber sich selbst?

Die alten Nähte reißen und platzen, weil sie dem, was kommt, nicht mehr gewachsen sind. Es kommt der schmerzhafte Punkt, wo wir uns selbst nicht mehr gewachsen sind. Wir wachsen also über uns selbst hinaus, wenn wir uns selbst nicht mehr gewachsen sind. Ein Paradox? Vielleicht. Aber das Leben ist eben so.

Leben ist kein Experiment. Und wir erfinden uns nicht in unserem Leben. Unser Leben entsteht, es wächst aus sich heraus. Es entsteht, weil es letztlich immer ein Geheimnis in sich trägt. Jedes Leben birgt ein Geheimnis. Dieses ist es auch, das uns über uns selbst hinausträgt, das uns uns selbst entwachsen läßt.

In einer Lebensgeschichte, die beim biografischen Schreiben nur angedeutet (an-gedeutet) werden kann, kann Geheimnis spürbar werden. Nicht zu benennen, nicht zu kategorisieren.

Es ist einfach da.

Das atmende Geheimnis in jedem Menschenleben.

Was uns bleibt, ist die Verneigung.